Anlässlich 20 Jahre «Best of Swiss Web» hat Joël Orizet von der Netzwoche mich als Urgestein dieses Preises interviewt. Der Titel lautete: Best of Swiss Web klopft die Branche ab und hier der Text.
Webtechnologien, das Business und vor allem die Menschen, die dahinter stehen – Jürg Stuker kennt die Schweizer Digitalbranche wie kaum ein anderer. Im Interview spricht er über den Beginn von Best of Swiss Web, den jüngsten Verkauf von Namics sowie darüber, was ihn ausser Web-Projekten sonst noch an- und umtreibt.
Die Coronakrise hat die Wirtschaft hart getroffen und den Alltag vieler Menschen umgekrempelt. Wie ist es Ihnen ergangen?
Jürg Stuker: Ich traue es mich kaum zu sagen, doch habe ich die Mischung aus Homeoffice und einem anschliessenden Sabbatical sehr genossen. Viel gewonnene Zeit mit Menschen und ein grosses Lernfeld für neue Formen der Zusammenarbeit.
Best of Swiss Web geht dieses Jahr in die 20. Runde. Sie waren von Beginn weg mit dabei. Wie haben Sie die Anfangszeit erlebt?
Ich erinnere mich gut an den ersten Gewinner. Das war Zweifel-Chips. Severin Klaus, der heute bei Hinderling Volkart arbeitet, war der grosse Held – er hatte die interaktive Website auf Basis von Macromedia Flash gemacht. Als Präsident der Technologiejury hatte ich allerdings einiges daran auszusetzen. (lacht)
Zum Beispiel?
Die Website basierte nun mal auf Flash – und ich fand das damals ziemlich peinlich, weil Flash meiner Meinung nach nichts mit Web-Technologien zu tun hat. Aber es war natürlich trotzdem ein gelungenes Projekt. Genau das reizt mich an Best of Swiss Web: Der Anlass ist eine willkommene Gelegenheit, um die Branche abzuklopfen. Man setzt sich damit auseinander, was die Konkurrenz macht und was gerade als modern gilt.
Was kam in den ersten Jury-Sitzungen häufiger vor: Staunen oder Kopfschütteln?
Man war natürlich schnell eifersüchtig, wenn die anderen etwas Besseres zeigen konnten. Da kam sofort die Frage auf: Warum haben wir das nicht gemacht? Doch in erster Linie war der Wettbewerb wie auch der Austausch mit Mitbewerben befruchtend. Das ist heute noch so. Ich finde es immer sehr spannend, wenn coole Projekte auf dem Prüfstand stehen. Also eher Staunen.
Was macht ein cooles Projekt aus?
Das hat sich stark verändert. Heute ist sind es vor allem Projekte, die gekonnt auf Bedürfnisse eingehen. Früher stand eher die technische Innovation im Zentrum. Eine Zeit lang hat zum Beispiel die Search-Truppe regelmässig abgeräumt.
Sie meinen die Macher von Search.ch.
Genau. Die hatten die Technik voll im Griff und waren extrem produktiv. Sie entwickelten vor 15 Jahren unter anderem eine Suchfunktion für standortbezogene Informationen wie Wetter, Adressen, Öffnungszeiten – und zwar mit einer integrierten Map-Anwendung. Beeindruckend war, dass sie das Panning, also das Verschieben der Karten, sehr flüssig und mit einer neuartigen Mausinteraktion hinbekommen haben. Das war revolutionär, zumal die damaligen Karten-Applikationen sehr primitiv waren. Selbst Google Maps war noch nicht so weit. Insofern war das ein cooler Technologiesprung.
Welche Entwicklungssprünge haben die Web-Branche besonders geprägt?
Die wohl wichtigste Entwicklung betrifft das Web an sich und das Vertrauen der User in das Medium. Es entwickelte sich von einem Nischenphänomen zum Massenmedium. Und das hatte enorme Konsequenzen, auch für unsere Branche. Das Verhalten der User hat sich komplett verändert.
Inwiefern?
Ganz am Anfang sprach man noch über die Verfügbarkeit. Von Auftraggebern hörten wir immer wieder: Unsere Kunden haben gar kein Internet. Später ging es etwa um Bandbreiten, Ladezeiten, Kompatibilität von Endgeräten und vor allem um Zugangskosten – die waren eine Zeit lang tatsächlich sehr hoch. Ich weiss noch, wie stolz wir waren, als wir uns einen 512-Kilobit-Anschluss namens IP-Plus von der Telecom PTT geleistet hatten. Das war damals einer der grössten Kostenpunkte – etwa viermal so teuer wie die Büromiete.
Wie ging es in den frühen Jahren von Namics zu und her?
Wir sassen oftmals nächtelang vor dem Bildschirm. Und auch sonst verbrachten wir viel Zeit miteinander. Abends zusammen essen, um die Häuser ziehen und sich auch an Wochenenden treffen – das gehörte zu unserem Lebensstil. Es ging uns allerdings nicht um das, was man im heutigen Managementjargon «Purpose» nennt. Wir waren also keine Sinnsuchende, sondern wir bauten einfach gerne Websites. Und zwar als eine Gruppe von Menschen, die mit der Zeit gute Freunde geworden sind.
Wie haben Sie das Platzen der Dotcom-Blase erlebt?
Es war ein extremer Einschnitt. Wir waren komplett unerfahren in dieses Internet-Business hineingerutscht – und vom Erfolg verwöhnt. So hatten wir auch niemanden, der sich um Sales kümmerte. Den brauchten wir nicht, denn das Telefon klingelte laufend. Die Kunden riefen uns an und wollten mit uns zusammenarbeiten. Wir hatten sogar Schwierigkeiten damit, den Leuten so abzusagen, dass wir nicht arrogant wirkten. Doch als die Blase dann platzte, war Schluss damit. Innerhalb weniger Wochen wurde ein Projekt nach dem anderen gestoppt. Und etwa neun Monate lang kam kein einziger neuer Auftrag rein. Das Internet war wie vergiftet.
Wie ging es weiter?
Zum ersten Mal mussten wir Leute entlassen, etwa 20 Prozent aller Mitarbeitenden. Das war sehr hart, wir waren schliesslich fast wie eine Familie. Und mit den Entlassungen war es nicht getan. Um die Firma am Leben zu halten, mussten wir privates Geld einschiessen. Dann drängte sich die Frage auf, wie man Projekte gewinnen kann. So kam es, dass wir krampfhaft versuchten, uns das Verkaufen beizubringen. Mit irgendwelchen Workshops über Kundenakquise und viel Übung haben wir das glücklicherweise hinbekommen.
Sie haben die Firma mit aufgebaut und miterlebt, wie sie verkauft, zurückgekauft und wieder verkauft wurde. Was macht das mit einem?
Im Augenblick sind das immer extrem spannende Projekte. Kommt ein Kaufangebot auf den Tisch, fühlt man sich geschmeichelt. Dann geht es plötzlich ums Verhandeln – das ist immer aufregend. Es steht Geld auf dem Spiel, was natürlich seinen Reiz hat. Aber im Grunde drehen sich solche Entscheidungen vor allem um menschliche Fragen und somit auch um Emotionen.
Wie genau kommt es zu solchen Deals?
In unserem Fall: ganz unverhofft. Es kommt eine Mail, in der steht: Wir möchten euch gerne zum Abendessen einladen. Beim Essen heisst es: Wir würden euch gerne kaufen. Erst reagiert man ein wenig verdutzt und sagt so etwas wie: Auf die Idee wären wir nicht gekommen. Und dann fragt man: wie viel? Das sind Situationen, wo man sich aufs Glatteis wagt.
Was gab für Sie persönlich den Ausschlag, um als CEO zurückzutreten?
Vermutlich die Einsicht, dass ich mich an eine Routine gewöhnt hatte. Ich war 13 Jahre CEO von Namics – eine sehr schöne, aber eben auch lange Zeit. Ich kam an den Punkt, an dem ich merkte: Der differenzielle Lustgewinn zwischen Budgeterstellung Nummer 12 und 13 ist relativ klein. Anders gesagt: Wenn man zehn Mal hintereinander dasselbe macht, verliert es seinen Reiz. Es gibt zwar diese Neigung, sich an seine Routine festzuklammern. Doch mich reizte das Neue. Ob Verkauf oder Management-Buy-out – für mich waren das in erster Linie spannende Projekte mit vielen offenen Fragen. Was ist die beste Verhandlungstaktik? Wie kommuniziert man das am besten gegenüber den Kunden und gegenüber den Mitarbeitenden?
Kann man so etwas rein taktisch entscheiden oder wird es auch emotional?
Emotionen spielen natürlich eine grosse Rolle bei solchen Entscheidungen. Wir hatten auch eine sehr hohe Teamdynamik. Zum Zeitpunkt des Management-Buy-outs waren wir 22 Partner, beim zweiten Verkauf schon 29. Es gab also viele Beteiligte mit verschiedenen Wertesystemen und Lebenszielen. Diese Vielfalt ist für ein Unternehmen ebenso wertvoll wie herausfordernd. Man muss in solchen Situationen damit rechnen, dass sich jemand quer stellt und sagt: Ihr spinnt doch! Und man sollte in diesem Fall zumindest in Betracht ziehen, dass diese Person Recht hat. (lacht)
Gab es Widerstand aus den eigenen Reihen?
Nein, es gab keinen Widerstand. Es brauchte allerdings viel Zeit, um herauszufinden, was wir wollen. Wir spielten verschiedene Szenarien durch. Der Verkauf war jeweils nur eine von mehreren Möglichkeiten, die wir diskutiert haben. Und wie gesagt: Wir waren viele Partner. Alle externen Berater sagten zu uns: Das geht so nicht; die Gruppe ist zu gross; ihr könnt doch nicht mit 29 Leuten einen Vertrag unterzeichnen. Doch wir haben es geschafft. Das war das Faszinierende: Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Diversität haben wir immer wieder Lösungen gefunden.
Was hat sich seit dem Verkauf an Dentsu Aegis verändert?
In einer Firma wie der unseren ist die Realität nun mal so, dass sich alles ständig verändert. Wir haben – wie alle Marktteilnehmer – eine jährliche Personalfluktuation von 10 bis 20 Prozent. Das kompensieren wir durch Neueinstellungen; zusätzlich kommen neue Leute durchs Unternehmenswachstum hinzu. Innerhalb von drei Jahren sind also gut drei Viertel der Belegschaft ausgewechselt. Das heisst, für viele unserer Mitarbeitenden hat sich durch den Verkauf nichts verändert. Und für jene, die schon länger dabei sind, sind die Veränderungen graduell. Beispielsweise wird heute intern häufiger Englisch gesprochen. Und es bieten sich mehr Chancen, grössere Projekte auch international aufzuziehen. Aber natürlich werden Prozesse auch komplizierter.
In den vergangenen zwei Jahren hat ausser Namics auch Hinderling Volkart den Besitzer gewechselt. Wie kommt es, dass es nicht umgekehrt läuft? Dass also Schweizer Agenturen im Ausland zukaufen?
In unserem Fall stand das durchaus zur Debatte. Wir spielten mit dem Gedanken, ein anderes Unternehmen entweder mit eigenen Mitteln oder zusammen mit einem Partner wie einem Finanzinvestor zu übernehmen.
Was sprach dagegen?
Die Zahlen. Was wir uns überlegt haben, hätte sich kommerziell nicht gerechnet. Das war eine rein rationale Entscheidung.
Abgesehen von den Finanzen: Was ging Ihnen durch den Kopf?
Es gab eine Frage, die uns sehr beschäftigt hat: Wie gut wären wir in der Integration einer anderen Firma? Vor dieser Aufgabe hatten wir grossen Respekt, denn Namics hat eine starke Kultur. Und typischerweise würde man eine Firma übernehmen wollen, die ebenfalls eine starke Kultur hat, die also stolz ist auf ihre Produkte, bestimmte Werte vertritt und sich scharf positioniert. Folglich wäre die kulturelle Integration eines anderen Unternehmens eine grosse Herausforderung gewesen. Wir wussten, dass das schwierig werden würde – ausserdem ist Organisationsintegration nicht unser Business.
Ist es schwieriger geworden, Mitarbeiter ans Unternehmen zu binden?
Mitarbeiterbindung gibt es nicht. Den Begriff sollte man streichen, denn die Leute lassen sich nicht binden – und zwar zu Recht. Es ist illusorisch, zu erwarten, dass jemand 30 Jahre lang am selben Ort bleibt und so seine Erfüllung findet. Als Arbeitgeber muss man das respektieren und sich darauf konzentrieren, langfristig attraktiv zu bleiben. Für uns bedeutet das vor allem, reizvolle Projekte anbieten zu können.
Wenn Sie mal nicht an einem Web-Projekt arbeiten: Was treibt Sie sonst noch um?
Ich habe mich lange Zeit für die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen engagiert. Dieses Thema treibt mich auch heute noch um. Die Idee eines universellen, gleichberechtigten Zugangs – davon sind noch weit entfernt. Vielleicht ist es sogar ein illusorisches Ziel, aber ich sehe da ein extrem hohe Verantwortung. Zugangshürden abbauen war ja auch ein ursprüngliches Ziel des Internets. Die Kommerzialisierung des Web hat dieses Ideal allerdings untergraben. Firmen wie Facebook sind gross geworden, indem sie digitale Mauern hochgezogen haben. Ich setze mich lieber für das Gegenteil ein.
Sie waren 10 Jahre lang im Verwaltungsrat der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte. Wie kam es zu diesem Engagement?
Das begann mit einer privaten Begegnung. Ich lernte einen geburtsblinden Menschen kennen, der inzwischen leider verstorben ist. Durch die Freundschaft mit ihm ist mir mehr und mehr bewusst geworden, was so eine Beeinträchtigung bedeutet, was es für Hürden im Alltag gibt, dass aber auch Chancen bestehen. Manche Blinde gehen Skifahren, haben Familien, führen Unternehmen und bereisen die Welt. Doch das Problem ist, dass die Chancen dazu ungleich verteilt sind, weil nach wie vor Barrieren bestehen – und teilweise auch neue hinzukommen. Manchmal sind es ganz simple Dinge wie moderne Elektroherde mit Touch-Bedienung. Ich finde das schon als Sehender sehr mühsam. Aber für einen blinden Menschen sind solche Geräte nicht zu bedienen. So etwas ärgert mich. Deswegen engagiere ich mich gerne für Projekte, die Barrieren abbauen.
Was treibt Sie dabei an?
Ich habe nicht den Anspruch, die Welt zu verbessern. Dafür bin ich zu pragmatisch. Ich bin allerdings sehr neugierig – und zwar auf alles. Was mich vor allem fasziniert, sind Menschen mit Leidenschaft. Das kann alles Mögliche sein: Ob jemand mit Herzblut kocht, bergsteigt oder näht, spielt keine Rolle. Wenn ein Mensch für etwas brennt und sich in Details verliebt, die mir selbst nie aufgefallen wären, dann lasse ich mich gerne von dieser Begeisterung anstecken. Der Faktor Mensch ist mir immer am wichtigsten – egal, was ich mache.